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Leseprobe von Mooyan: Der Beginn der Geschichte als offizielle Leseprobe

von Thomas Poppner

Dies hier ist der Beginn meines Fantasyromans. Sicher wird es noch ein paar kosmetische Änderungen geben. Aber im Großen und Ganzen steht alles.

Der Fischer Tana vor einem Segelschiff

Silber

Nach den Wirren des ersten Zeitalters schilderte die Seherin Narsis das Kommende so exakt, dass ihre Worte weit über Odar hinaus Würdigung erfuhren. Als sie dann düstere Visionen befielen, schrieb sie diese im Königsbuch und zwei Werken über den Tod nieder.

An einem trüben Winternachmittag versammelte sie Dutzende ihrer Anhänger an den Klippen eines Fischerdorfes. In konfusen Worten warnte sie, dass das Leben zum Gefängnis werden würde. Inständig forderte sie dazu auf, es ihr gleichzutun und stürzte sich von einem Felsen.


Dies ist nicht die Geschichte der Narsis. Es ist auch nicht meine. Es sind Beobachtungen aus einer Zeit, als die Welt ein Pfeil traf, der tausend Jahre zuvor abgeschossen wurde. Noch ahnte davon niemand etwas. Auch ich nicht, als mich ein Klümpchen Silber in das hineinzog, was man später die Schattenkriege nennen würde.

Alles, was ich wusste, war: Ich hatte einen Auftrag erhalten. Um den nun ausführen zu können, musste ich bei Kamo abheuern …

Archipel Mooyan, Insel Løtaja

Eine rote Abendsonne legte die Bergkette der Løtaja in ein zwielichtiges Schimmern. Im Südosten der Insel befanden sich in einer Bucht zwischen steilen Klippen die Anleger. Der massive, schroff abfallende Fels, war sorgfältig beschlagen worden, um eine stabile Plattform zu schaffen, an der selbst große Kreuzer andocken konnten. Steinerne Stufen, gesäumt von einem Eselspfad führten nach oben, um Passagiere und Waren sicher ins Landesinnere zu bringen.

Gewöhnlich herrschte hier reges Treiben. Doch nun, da der Tag sich dem Ende neigte, waren alle hereinkommenden Schiffe entladen und ablegen tat niemand mehr. Denn die Winde bliesen tückisch vor der Inselgruppe des Archipels. Und schon mancher geübte Seemann erlitt hier Schiffbruch. 

Das Geheimnis beim Navigieren in diesem schwierigen Terrain lag darin, mit dem Wind zu segeln und Mooyan vor dem ersten Manöver weit hinter sich zu lassen. Darüber debattierten gerade zwei Menschen. Und einer davon war ich: ein unerfahrener junger Mann von noch nicht einmal zwanzig Jahren.


»Nach Vale will er?« Kamo lachte und spielte an seinem Rauschebart.

Ich verstand nicht, was daran lustig war. »Ja, Vale hat er gesagt. Was ist damit?«

»Ach!« Kamo winkte ab. »Man sagt, dass dort Piratenschätze vergraben liegen wie Nüsse um einen Eichhörnchenbau.«

»Schätze? In Vale?« Meine Augen wurden größer. »Warum dort?«

»Verhexte Frauen beherrschen Vale. Sie warten, bis die Beute vergraben ist. Dann betören sie die Seeleute und fressen sie bei lebendigem Leib auf.« Kamo hob den Mundwinkel zu einem frechen Grinsen. »Du bist tot, Tana!«

Ich verzog den Mund.

Er riss mir einen Lederbeutel aus der Hand und öffnete ihn. »Wie viel hat er dir geboten? – Ohaaa …« Ein Metallklümpchen türmte sich wie eine kleine Pyramide in seiner Handfläche auf. »Das ist Silber.« Kamo schob die Unterlippe nach vorn und wog es in der Hand ab. »Gut ein halbes Pfund davon.« Mit fragendem Blick hob er das Klümpchen an und befühlte dessen Unterseite.

»Er hat es durchgesägt«, unterbrach ich seinen Forschungsdrang.

»Durchgesägt?« Kamo wandt eine Bartsträhne um den Finger.

Ich zuckte mit den Schultern. »Er nahm so eine Art Drahtsäge und teilte das Silber vor meinen Augen in zwei Stücke. Die andere Hälfte kriege ich, wenn alles zu seiner Zufriedenheit abgelaufen ist, sagte er.«

Kamo nickte wissend. »Er wollte dir zeigen, dass er dich nicht betrügt und das Silber echt ist.«

»Du meinst …?«

»Na, was glaubst du, warum es Münzen gibt, Tana? Wenn dir jemand so einen Klunker anbietet, solltest du als Erstes prüfen, dass er innen auch genauso aussieht wie außen. Da bist du offenbar an einen ehrlichen Geschäftsmann geraten.«

»Ich … ich hab noch nicht …«

»Du willst mir jetzt nicht sagen, dass du sein Silber genommen, aber noch nicht zugesagt hast, Tana!«

»Nein, aber …«

Kamo ließ das Klümpchen wieder zurück in den Lederbeutel plumpsen und reichte ihn mir. »Regel Nummer eins unter Fährleuten, Tana: Wenn du jemanden nicht befördern willst, dann nimm sein Geld nicht.«

»Ja, aber … er ist mir unheimlich.«

»Regel Nummer zwei: Je unheimlicher der Fahrgast, desto höher der Preis für die Überfahrt. Und für ein Pfund Silber …« Kamo blies Luft durch die Lippen. »Dafür darf er schon unheimlich sein.«

»Was ist, wenn er mir etwas antut?«

Kamo schmunzelte. »Dann bist du tot, Tana.«

Ich fuhr mir über das Kinn. »Also entweder mein Fahrgast bringt mich um, oder die menschenfressenden Hexen.«

Kamo lachte und klopfte mir vertraut auf den Rücken. »Wann solls denn losgehen?«

Ich atmete aus. »Bei Sonnenuntergang – am anderen Ende des Kais.«

»Sonnenuntergang? Aha.« Kamo warf einen prüfenden Blick über das Meer. »Er will in die Nacht hineinsegeln?«

»Ich hab versucht, ihm das auszureden.«

Kamo ging auf einen Steg zu und winkte mir, ihm zu folgen. Er setzte sich und klopfte mit der rechten Hand auf das Holz, um mir zu bedeuten, es ihm gleichzutun.

»Ich werde dir erklären, was gerade geschieht, Tana. Es ist dieser Pjoktor, der dich als Skipper anheuern will, oder?«

Ich nickte.

»Es war auf der Überfahrt nicht zu übersehen, dass er Interesse an dir hatte.«

»Er hat mich ständig in Gespräche verwickelt.«

»Ich habe es mitbekommen und hatte schon Bedenken, er könnte sich in deine dunklen Augen verguckt haben.«

»Meine Augen?«

Kamo hob die Handflächen. »Weißt du, Tana. Einige der hellhäutigen hohen Herren aus Mooyan vergehen sich gern an Jünglingen wie dir. Ich habe schon so manchen schwärmen hören von kakaofarbener Haut. Oder von schwarzen Haaren und dunklen Augen wie sie bei uns im Süden üblich sind.«

Ich fuhr mir über die Stirn.

»Na, nun zieh nicht so ein Gesicht, Tana. Solche Burschen vergehen sich an dir und lassen dich dann über Bord gehen. Oder sie entführen dich und du verschwindest in einer Art Jünglings-Harem.«

Ich biss mir auf die Lippe. »Lass uns ablegen, Kamo. Ich muss hier verschwinden.«

»Nein, nein.« Kamo machte eine beschwichtigende Geste. »Ich habe diesen Gesellen beobachtet. Er hatte keinen lüsternen Blick. Und besonders aufmerksam wurde er immer, wenn du mich an Bord vertreten hast. Der wollte sehen, ob du das Zeug hast, ein Schiff zu führen.«

»Aber … was will er denn mit mir? Er hätte doch auch dich anstellen können. Du hast viel mehr Erfahrung.«

»Tana!«, tadelte Kamo. »Wenn mir jemand ein Pfund Silber bieten würde, für eine simple Überfahrt nach Vale – ich wüsste sofort, dass da auch soviel Gold zu holen wäre. Oder wenigstens dessen Gegenwert.«

Ich riss die Augen auf.

Er lachte. »Glückwunsch zu deiner ersten Heuer. Ich wollte, mir hätte man es zu Beginn so leicht gemacht.«

»Aber …«

»Ach!« Kamo winkte ab. »Vergiss mal das Geschwätz von den Hexen aus Vale. Und dieser Pjoktor wird mehr auf dich angewiesen sein, als du auf ihn. Es gibt aber ein paar Gepflogenheiten, auf die du bei solchen Fahrgästen zu achten hast.«

Kamo zählte drei Punkte mit den Fingern ab.

»Erstens: Du siehst nichts, was du nicht sehen sollst.

Zweitens: Du hörst nichts, was du nicht hören sollst.

Drittens: Du sprichst über nichts, über das du nicht sprechen sollst.«

Ich verschränkte die Arme. »Du glaubst also tatsächlich, dass es ein zwielichtiger Geselle ist?«

»Na, selbstverständlich ist er das. Er ist ein Handelsmann. Und der Betrag, den er dir bietet, spricht eine klare Sprache.«

Ich verzog den Mund. »Und welche soll das sein?«

»Wer so viel Silber für eine Überfahrt nach Vale zahlt, dem hat etwas an dir gefallen. Er wird wiederkommen, wenn er zufrieden war. Ist er es aber nicht …« Kamo machte mit der flachen Hand eine Kopf-ab-Geste. 

Ich pustete Luft durch die Backen. »Und was ist mit dir?«

»Ach, Tana.« Kamo atmete tief ein und dann ebenso tief wieder aus. »Lass uns ehrlich zueinander sein.«

»Du brauchst keinen Schiffsjungen?«

Kamos Mine wurde ernst. »Als deine Eltern damals von See nicht zurückkamen, war das ein furchtbares Unglück. Statt dich in Trauer zu verzehren, hast du dein Leben in die Hand genommen – als halbes Kind – und wurdest Fischer.

Du weißt, ich fahre nur diese kurze Strecke zwischen Pilao und Mooyan. Ich wollte dir die Möglichkeit geben, die Welt kennenzulernen. Und nun zieht es dich bei deiner ersten Heuer gleich nach Vale, wo ich niemals war.«

»Hättest du nicht Lust, zusammen …«

»Ach was!« Kamo hielt mir die Handfläche entgegen. »Schau dich an, Tana! Du bist erwachsen. Fast zwanzig Lenze bist du alt. Wird Zeit, dass die See dir endlich ein paar eigene Entscheidungen abverlangt.«

Ich fuhr mir über das Kinn.

Kamo blickte einen Moment schmunzelnd in den Himmel, bevor er sich mir wieder zuwandte. »Auch ich war aufgeregt, als ich die Fähre meines Vaters übernommen habe. Stellt er denn ein brauchbares Schiff?«

»Er sprach von einer Schaluppe.«

»Du hast bei mir gelernt, wie ein Schiff aussieht, das in Schuss ist. Akzeptiere keine verrottete Ausrüstung, denn sie schützt nicht nur dich, sondern auch deine Passagiere. Verhalte dich, wie ich dir gesagt habe und du wirst deinen Weg finden.«

Ich nickte stumm.

»Und eins, Tana!« Kamo hob den Zeigefinger. »Ich mag keinen Schiffsjungen benötigen, um klarzukommen. Aber du bist jederzeit willkommen an Bord. Und nun …« Er kramte aus einer dunklen Ledertasche ein Buch hervor und hielt es mir hin.

Ich musterte es – roch daran.

»Es ist neu«, sprach er. »Ich habe es gerade erst vom Hafenmeister erworben. Er hat so sehr davon geschwärmt – ich musste es mitnehmen. Es stammt von einem Weltenbummler drüben von der Hohenau, der die ganze freie Welt bereist hat. Du brauchst es sicher nötiger als ich.«

Kamo nahm mir das Buch wieder aus der Hand und blätterte darin. Auf einer Doppelseite war die bekannte Welt abgebildet.

»Dort ist Vale. Es dürften so um die zweihundert Seemeilen sein. Du segelst immer in Sichtweite von Landmassen. Also wirst du dich kaum verfahren können. Ein Spaziergang.«

Von Mooyan nach Vale

Da saß ich nun am Kai der Løtaja und dachte über mich, meinen Auftrag und die Launen des Lebens nach.

Hatte ich schon erwähnt, dass hier auf dem Archipel Mooyan das Leben entstanden ist? Die ersten Menschen haben sich von hier aus auf den Weg gemacht, um die Welt zu entdecken. Und da die ersten Menschen diese Inseln bereits erkundet hatten, hielt ich es niemals für nötig, dies auch zu tun. Das lag an deren ebenso fahlhäutigen wie hochnäsigen Bewohnern. Wenn sie zu uns nach Pilao kamen, verhielten sich alle gleich. Zuerst sprachen sie davon, dass wir im Paradies leben würden. Dann wollten sie für immer bleiben. Schließlich wurde es ihnen langweilig und bevor sie dann endlich wieder abreisten, machten sie Witze über uns.

Ich verscheuchte diese Gedanken wieder, denn ich war ja nun bei einer dieser Hochnasen angestellt. Und das als Skipper – immerhin so etwas wie ein kleiner Kapitän. Ich wog den Lederbeutel in meiner Hand ab. Wenn es gut laufen würde, könnte ich mir ein eigenes Schiff kaufen. Ein Grund, meine Ansichten zu den hiesigen Bewohnern zu überdenken.

Ich steckte den Lederbeutel wieder ein, ergriff Kamos Buch, schlug die Seekarte auf und fuhr mit dem Finger den Weg nach Vale ab. Zweihundert Seemeilen. Was würden wir dort finden? Einige Seiten weiter gab es dazu eine Abhandlung.

Nicht Vale, sondern Val’Odar sei unser Ziel, las ich. Die Insel sei zweigeteilt. Übt, Euch zu entschuldigen, bevor ihr euch in den Osten nach Odar aufmacht, schrieb der Autor. Denn dort sei man misstrauisch und erwarte das Böse aus Vale. Trotzdem schien er die Insel nur im Osten bereist zu haben und erging sich in seitenlangen Abhandlungen dazu. Ich verzog den Mund, als ich feststellte, dass er im Westen, also in Vale, nur die Küste umsegelt hatte. War vielleicht doch etwas dran, an den Hexengeschichten?

Eine ebenso tiefe wie kräftige Stimme beendete meine Lektüre. »Ihr seid pünktlich, Seemann. Das gefällt mir.«

Ich zuckte zusammen und blickte zu diesem bärtigen Fleischberg auf.

Pjoktor lachte. Er nickte mit dem Kopf in Richtung eines Anlegers und ging vor, ohne auf mich zu warten. 


Die bereitgestellte Schaluppe war größer, als ich erwartet hatte. Ein stolzes kleines Schiff mit der Länge von zwei Pferdegespannen. Es war gut in Schuss und eine Kajüte würde uns vor Regen schützen. Anerkennend nickte ich.

»Zufrieden, Seemann?«, fragte Pjoktor, als erwarte er keine Antwort darauf.

An Bord saß ein weiterer bärtiger Mann. Er mochte einen halben Kopf kleiner als Pjoktor sein. Doch seine Oberarme mochten den Umfang meines Oberschenkels übertreffen. Welchen Geschäften die beiden auch immer nachgehen mochten, ihre Kleidung wirkte keineswegs prunkvoll. Aber man erkannte, dass sie sich um ein lauteres Auftreten bemühten. 

Unser Passagier erhob sich, trat mir entgegen, beugte seinen mächtigen Oberkörper zu mir herab und reichte mir die Hand zum Gruß. »Sanjok ist mein Name. Es ist angenehm, Euch kennenzulernen …« Er machte eine Pause.

»Tana«, erwiderte ich und schlug ein. »Ebenfalls angenehm.«

Ein freundliches Lächeln erwärmte mein Herz. Sanjoks Pranke hätte sicher meine Hand zerquetschen können. Aber sein Händedruck fühlte sich verbindlich und wertschätzend an. Dazu dieser wohlwollende Bass seiner Stimme. Ich war fast ein wenig froh, nicht mit Pjoktor allein auf diesem Schiff zu sein.

Dies war also mein erster Auftrag als Skipper. Und da ich nun so etwas war, wie der Kapitän eines kleinen Schiffes, begab ich mich daran, Ausrüstung und Zustand des vorhandenen Materials zu überprüfen. 


Geduldig hatten sich die beiden ans Heck gesetzt und unterhielten sich in vertrauter Weise. Ich verstand nicht ihre Worte. Aber ihr Tonfall war entspannt und unaufgeregt. 

»So klingt niemand, der etwas ausheckt«, murmelte ich mir selbst zu. Denn natürlich war ich aufgeregt. Diese beiden Bären saßen dort wie unbezwingbare Festungen. So ließ ich mir Zeit beim Sichten der Ausrüstung – auch, weil ich mich dabei ein wenig beruhigen konnte. Denn mein Herz wummerte immer wieder so laut, dass ich glaubte, es hören zu können.

Sanjok und Pjoktor dagegen blieben gelassen und zeigten keine Gesten, die auf Ungeduld schließen ließen. Schließlich hatte ich alles Material an Bord mehrfach überprüft und begab mich zu den beiden.

Pjoktor erhob sich. »Es wird Zeit«, brummte er. »Die Sonne ist bereits im Meer versunken. Bald wird es dunkel sein.«

Ich deutete auf den Horizont. »Ihr wollt also wirklich …?«

»Seemann!« Pjoktor bemühte sich um freundliche Gesichtszüge. »Unsere kleine Reise hier wäre mit einer Handvoll Kupfergroschen bezahlt gewesen. Was glaubt Ihr, warum Ihr Silber erhalten habt?«

Ich nickte verbindlich. »Weil wir in die Dunkelheit segeln und ich keine Fragen stellen werde.«

Pjoktor gab mir keine Antwort, sondern deutete nur zustimmend mit dem Zeigefinger auf mich. 

Auch Sanjok erhob sich. Er ging wie selbstverständlich an den Bug des Schiffes und löste die Vertäuung, wie auch ich das am Heck tat.

»Ahoi?«, fragte er.

»Ahoi!«, bestätigte ich. 

Sanjok stieß das Boot mit einen Tritt vom Kai ab und löste ohne weiteres Kommando die Fock – das Vorsegel. Mit einem Fauchen fuhr der Wind hinein und zog uns auf die See hinaus. Nachdem ich das Rahsegel gehisst hatte, legte ich mich zufrieden an den Bug, streckte die Nase in den Wind und schmunzelte. Ein Pfund Silber. Sollte das Wetter so bleiben, wäre dies hier eine Spazierfahrt.


Unsere Schaluppe glitt sanft durch die Nacht. Der Vollmond warf sein silbriges Licht über das Wasser und enthüllte eine Steilküste, die weiter und weiter aus dem Wasser erhob. Meine Augen wurden angezogen von steinernen Gebilden, welche wie mächtige Untiere über den flachen Teil der Insel wachten. Es war mir fast, als würden sie uns auflauern – einen Moment abpassen wollen, in dem wir unaufmerksam sind.

Sanjok schien meine Gedanken zu erraten. »Die Salzwüste des Çakovo«, erklärte er. »Ihr seid nicht er Erste, der diese Gebilde für lebendig hält. Solltet Ihr Euch eines Tages dort hinbegeben, werdet Ihr erkennen, dass es nur von Sand bearbeiteter Salzstein ist. Der Wind hat diese Skulpturen mit unermüdlicher Kraft über die Jahrhunderte aus den Felsen geschliffen.« Daraufhin begab er sich hinten ans Ruder.

»Was tut Ihr?«, fragte ich – unsicher, ob ich empört sein sollte oder nicht.

»Er lenkt das Schiff an den Çakovo heran«, brummte Pjoktors Bass hinter mir.

»Aber …«

»Ist schon gut, Seemann!«, beruhigte mich Pjoktor und beugte sich zu mir herunter. Mit dem Finger deutete er in die Ferne. »Seht Ihr dieses Licht dort? Das ist unser erstes Ziel.«

»Unser erstes Ziel?«, fragte ich. »Der Çakovo? Ich dachte, unser Ziel wäre Vale.«

»Ist es auch, Seemann!«

Kamo hatte mir beigebracht, dass man sich als Skipper Respekt zu verschaffen hat. Und so verschränkte ich die Arme. »Kann mir jemand erklären, was das hier bedeutet?!«, zischte ich. »Ich bin der Schiffsführer hier.«

»Das seid Ihr«, bestätigte Pjoktor. 

Ich blickte zu ihm auf. »Und wie kann es sein, dass wir ohne mein Kommando eine Landmasse ansteuern? Wozu braucht Ihr mich, wenn Ihr alles ohne mich macht.«

Pjoktor lachte, was bei seinem Bass fast die Planken beben ließ. Er schlug mir auf den Rücken. »Ihr gefallt mir … Skipper!«

»Wenn ich Euch gefalle, dann sagt mir: Was habt Ihr mit mir vor?«

»Na, Ihr werdet das Schiff steuern«, antwortete Pjoktor.

Ich verzog den Mund. »Momentan steuert Euer Freund das Schiff und Ihr scheint der Kommandant zu sein.«

»Das ist richtig, Seemann!« Er deutete wieder in Richtung des kleinen Lichtes. »Aber wenn ich dort von Bord gehe, werdet Ihr das Kommando haben. Kommt!« Er bedeutete mir, mich mit ihm an den Bug der Schaluppe zu begeben.

Das Licht kam langsam näher, wie auch die Klippen der Çakovo-Wüste. Es war ein rötliches Licht, welches nicht flackerte. Es zog meine Augen magisch an, doch immer wieder riss ich meinen Blick los und prüfte unseren Abstand zu den aufsteigenden Klippen. Denn wenn wir zu nah in den Windschatten dieser Insel geraten sollten, könnte unser Schiff der Brandung nicht mehr standhalten und zerschellen.

»Keine Sorge, Seemann!«, sprach Pjoktor, als er die Bedenken in meinen Augen sah. »Wir werden uns fernab der Felsen halten.« Vertraut klopfte er mir auf den Rücken und lachte. »Schließlich sind wir nicht lebensmüde, Seemann.«


Ich blinzelte, als wir uns dem Licht weiter näherten. Ein rotes Leuchten, kein Flackern. Rundlich schien es zu sein. Ich fuhr mir über das Kinn. Dann erkannte ich, dass da noch etwas im Wasser war. Ein Boot tauchte vor uns auf. Schwarz war es und es hatte keine Aufbauten. Also eher ein Ponton als ein Schiff. Wir mochten noch einige hunderte Schritt von Çakovos Klippen entfernt sein. Es lag dort einfach im Wasser, als hätte jemand Anker geworfen.

Sanjok eilte schon an das Vorsegel und holte es dicht, wie man es tut, um eine Wende einzuleiten. Er winkte mir, das Ruder herumzuwerfen. Perplex begab ich mich nach Achtern ans Ruder. Es bestand kein Zweifel. Wir hatten das schwarze Schiff inzwischen passiert. Sanjok wollte eine Wende einleiten. Und so legte ich das Ruder um.

Sanjok fixierte die Fock und eilte zu mir nach hinten. Wortlos griff er ins Ruder und lenkte unsere Schaluppe ganz nah an das im Wasser liegende Schiff heran.

»Seid vorsichtig!«, rief ich. »Ihr werdet es rammen!«

»Keine Sorge, Seemann!«, antwortete mir Sanjok ruhig.

Da hatten wir das düstere Ponton auch schon erreicht. Pjoktor sprang aus unserem fahrenden Schiff mit einem riesigen Satz an Bord. Er winkte uns. Sanjok winkte zurück – so tat ich desgleichen.

»Was tut er da?«, fragte ich und biss mir auf die Lippe.

»Er wird von dort aus weiterreisen«, sprach Sanjok, als sei das Geschehene völlig normal. Er blickte in die Sterne, als ob er die Richtung prüfen würde. »Für uns beide geht die Reise weiter nach Vale.« 

Nachdem wir unseren alten Kurs wieder aufgenommen hatten, nickte er mir zu und legte sich wieder hinten in unsere Schaluppe.

Ich dagegen nahm vorn am Bug Platz und beobachtete die vom fahlen Mondlicht erleuchteten Salzformationen und vor allem diesen mächtigen Berg, der sich an der Westseite der Insel erhob.


Heute weiß ich: Das Wetter war der einzig berechenbare Faktor unserer Reise. Nichts gestaltete sich so, wie es schien. Ich dachte, wir seien zwei Seelen an Bord. Tatsächlich waren wir zu viert. Und dieser bärtige Pjoktor, welchen wir gerade abgesetzt hatten. Er gehörte einer Rasse an, welche den gleichen Namen trug wie er selbst: Kreaturen, die in den feurigen Tiefen der Erde ihr Zuhause hatten – welche ihre Form frei bestimmen konnten. Keineswegs bösartige Geschöpfe. Bösartig war nur das, was er in sich trug.

Der Welt wäre viel Leid erspart geblieben, wenn unser Schiff vor Erreichen des Çakovo in Stürme geraten und gesunken wäre. Fast wäre es dazu noch gekommen, denn seichter Ostwind trieb uns voran. Das Boot schaukelte uns sanft durch die Wellen und mich in den Schlaf.

Einige Zeit später

»Heh, Seemann!«, weckte mich jemand schroff aus den Träumen. »Ihr sagtet, Ihr würdet wach bleiben.«

»Ich … ich …«

Sanjok hatte mich angehoben und ließ mich los, sodass mein Rücken polternd aufs Deck krachte. 

Die Winde um uns herum hatten zugenommen. Es grollte, obwohl die Sterne zu sehen waren. Benommen versuchte ich, mich an ihnen zu orientieren.

»Wir fahren nach Norden, Seemann!«, unterbrach mich Sanjok und rannte bereits nach Achtern ans Ruder. Er deutete auf die Fock. »Halse nach Backbord!«

War ich nicht der Skipper an Bord? Bevor ich diesen Gedanken verfolgen konnte, hatte er bereits das Ruder herumgerissen.

Augenblicklich schien es ruhiger zu werden. Still verharrten wir einen Moment an unseren Positionen, bis er das Ruder wieder arretierte.

Er kam zu mir nach vorn. Sein Tonfall war ruhig, keineswegs vorwurfsvoll. »Wir können uns glücklich schätzen, dass das Schiff nach Norden ausgebrochen ist, als Ihr weggedöst seid, Seemann. Selbst wenn wir den Aufprall an Çakovos schroffen Klippen überlebt hätten, in dessen Salzwüsten gibt es weder Pflanzen noch Tiere. Selbst der einzige Fluss des Landes ist salzig.«

Ich nickte stumm und er klopfte mir ermutigend auf den Rücken. »Grämt Euch nicht, Seemann! Jeder erfahrene Kapitän – wie groß sein Schiff auch immer sein mag –, hat Ähnliches schon erlebt. Er führt sein Schiff nur, weil im rechten Moment Leute wie ich aufmerksam wurden, die wussten, was zu tun war.«

»Seid Ihr auch …?«, stammelte ich.

»Natürlich«, entgegnete Sanjok. »Deswegen werde ich Euch jetzt auch nicht fragen, ob Ihr Euch zur Ruhe legen wollt. Denn nach Schlaf wird Euch bestimmt nicht mehr der Sinn stehen.«

Ich blickte noch einmal in den Himmel.

»Ihr fragt Euch, wo diese Winde herkamen?« Sanjok schmunzelte. »Wenn Ihr Eure Seekarte anseht, werdet Ihr im Norden das Brachlon finden. Manche nennen es das verwunschene Land

»Verwunschenes Land?«, fragte ich. »Was gibt es dort?«

»Niemand weiß es. Bei guter Sicht erkennt man Gipfel in der Ferne. Auch Vulkanschlote scheinen darunter zu sein. Doch das Land gewährt niemandem Zugang.«

»Ihr meint die Winde?«

Sanjok nickte. »Die Winde haben uns abgedrängt. Wenn man sich ihnen entgegenstellt, zerstören sie Segel, Mast und Ruder. Viele, die es versuchten, kamen nicht zurück. Merkt Euch das, Seemann.«

Sanjok prüfte noch einmal den Himmel, die Windrichtung, die Stellung der Segel und des Ruders. Wir lagen wieder ruhig auf Kurs. »Also, Skipper«, sprach er und deutete freundlich auf das Ruder. Dann begab er sich nach vorn und legte sich am Bug auf die Planken.


Unser Schiff fuhr in den Morgen hinein. Langsam erhob sich ein fahler Lichtschein, der bald rötliche Farbe annahm und den Aufgang der Sonne ankündigte. Der Wind trieb uns gut voran, die See schien uns zu begrüßen. So kramte ich Kamos Buch heraus und suchte nach der geheimnisvollen Insel namens Brachlon, die uns in der Nacht fast zum Verhängnis geworden war. Und tatsächlich – auch der Autor des Buches hatte dort anlegen wollen.


In den Koram-Bibliotheken suchte ich, Erkundungen einzuholen, wie es möglich wäre, dass man das Brachlon, welches niemals jemand betreten hatte, so genau kartografieren werden konnte. Ich erhielt die Antwort, dass es uralte Karten gebe. Sie seien mit unbekannten Schriftzeichen versehen und stammten aus einer Zeit, in der man das verwunschene Land offensichtlich bereisen konnte.

Natürlich versuchte auch ich selbst, das Geheimnis dieses Landes zu ergründen. Ich lief es aus südlicher Richtung an, von Westen und von Osten. Selbst die kalten Meere des Nordens bereiste ich. Aber es geschah immer das Gleiche: Winde türmten sich auf wie blutrünstige Wachhunde, welche jedem die Zähne zeigen, der sich dessen Grund- und Boden nähert.

Man erzählt sich, dass es verwegene Mannschaften gab, die sich diesen Winden entgegenstellten. Diese tapferen Seeleute kamen niemals zurück. Und so beschlossen wir, die Warnungen der Winde ernst zu nehmen, wenn sie uns gegenüber ihre Zähne fletschten.


Dieser Text war hinreichend deutlich, um unseren Kurs noch einmal genau zu prüfen. Mit dem Berg Çakovo im Rücken steuerte ich West-Nordwest. Und ich achtete darauf, dass es das westlichste Nordwest war, welches ich jemals anlegte. 

Einen Tag später erhob sich eine Spitze aus dem Wasser. Ich schrie auf vor Freude. Hinter mir der Çakovo – in gerader Linie voraus ein Gipfel. Einer der drei Berge Odars. Wir waren am westlichen Ende der bekannten Welt angekommen.

Sanjok nickte anerkennend. »Gut navigiert, Seemann!«

Ich senkte die Augenbrauen, sagte aber nichts. Denn diese Insel hätte er auch ohne meine Hilfe ansteuern können. Als die Küste Odars in Sicht kam, änderten wir unseren Kurs nach Westen. Einen halben Tag lang passierten wir dessen Klippen, bis das Land flacher wurde und das Ufer sandiger.

»Vale«, sagte Sanjok und deutete in die Ferne. Er blickte mich an und lachte. »So wie Ihr dreinschaut, Seemann, hat man Euch von den blutrünstigen Sirenen berichtet.«

»Sirenen?«

Sanjok hob einen Mundwinkel. »Bösartige Weibsbilder, die Euch in den Schlaf singen, um Euer Fleisch von den Knochen zu nagen.«

Ich schluckte – suchte nach Worten.

Sanjok winkte ab. »Seemannsgarn. Alles Seemannsgarn.«

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